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Die Ursprache der Ostsee

(Erschienen in der Monatsschrift Die Christengemeinschaft 2002/7-8)

Dem Gletscher nach

Noch keine fünfzehn Tausend Jahre sind es her, da war das gesamte Gebiet der heutigen Ostsee samt Skandinavien, Finnland und Baltikum mit einem mächtigen Gletscher bedeckt. Doch schon kurz danach begann dieser allmählig zu schmelzen, seine südlichen Ränder zogen sich Schrittchen nach Schrittchen zurück und legten die Landschaft frei, die Jahrtausende unter dem Eis verborgen war. Doch sie war anders, als bevor die Eismassen kamen -- sie war nun durch den Gletscher umplastiziert, sie war von Moränen durchzogen und von abertausenden erratischen Blöcken geziert, und vor allem, in ihrer Mitte ließ die schwindende Eismasse einen großen Gletschersee zurück -- die künftige Ostsee.

Den nach Norden wandernden Gletscherrändern wanderten bald auch die Menschen nach. Sie lebten von einer gegenseitigen Abhängigkeit mit den ziehenden Renntierherden -- die Rene gaben den Menschen Fleisch, Fett und Fell, die Menschen den Tieren Schutz und Pflege, die sie ohne menschliche Hand sonst nie hätten können. Nur kleine Ergänzungen bot den Menschen weitere Jagd und Fischerei; die karge Landschaft selber stellte fuer den menschlichen Lebensunterhalt nichts als einige Beeren bereit. So zogen die Renntiernomaden gemeinsam mit den Herden von einem Ort zum anderen, je nach dem, wieviel Flechten, Gräser und Zwergbäume die Erde den Tieren bot, und kamen allmählich immer weiter nach Norden, wie der Gletscher zurückwich. Sie waren von verschiedenster Abstammung, gehörten unterschiedlichen Rassen und Stammesgruppen, doch sie hatten alle eine Sprache, in der sie sich verständigen konnten.

Wir können nicht mit Sicherheit sagen, wann und wo genau sich die eine Verkehrssprache der Renntiernomaden zunächst verbreitete. Vielleicht war es ursprünglich die Sprache nur eines dieser Völker, das eher als die anderen mit den Renntierherden verwuchs und den spätergekommenen eine für diesen Lebensstil geeignete Sprache bereits vollständig ausgebildet bieten konnte. Oder kann es sogar eine Kunstsprache gewesen sein, die irgendwo im protosumerischen Kulturkreis in die Welt gesetzt wurde, um verschiedenen zusammenlebenden oder in handelsbeziehugen stehenden Völkern eine gemeinsame Verständigungsbasis zu geben -- den der grammatische Aufbau dieser Sprache war außerordentlich klar und logisch, als ob sie nicht der Seele eines einzigen Volkes entspräche, sondern dem reinen Menschheitsideal abgelauscht worden wäre.

Nachfolger der Renntierbrüder

Überall, wo die Renntiernomaden damals gelangten, finden wir Spuren dieser einen, völkerübergreifenden Sprache. Aus den breiten Räumen des langsam sich erwärmenden Europa wanderten sie östlich an der künftigen Ostsee entlang, durch Nordrußland, Karelien und Finnland, und kamen dann in einem großen Bogen von Norden bis in die südlichen Teile des heutigen Norwegen und Schweden. Diese Wanderung dauerte mehrere Jahrtausende und wurde von einigen tiefgreifenden Kulturveränderungen begleitet. Dem ,,Verbund der einen Sprache`` schlossen sich dabei immer neue Völker an; jedes lernte sie auf seine eigene Weise sprechen, so wie heute verschiedene Ausländer in einem Gastland mit verschiedenen charakteristischen Eigenheiten die eine Landessprache gebrauchen. So entstanden Dialekte, die jedoch die gemeinsame Verständigung noch nicht hinderten. Erst als der Klimawandel so fortgeschritten war, daß die im Baltikum und in Nord- und Mittelrußland sich befindenden Völker seßhaft werden konnten, hörte die ständige Bewegung und das gegenseitige Durchdringen auf und die bisherige Spracheinheit bekam die ersten Risse.

Es konnte etwa vor drei bis fünf Jahrtausenden sein, da erschienen von Südwesten und Südosten neue Völkerschaften auf dem Plan. Sie lernten nicht mehr die alte ,,lingua franca`` sprechen, denn nun waren es sie, die neue Technologien mit sich brachten -- fortgeschrittene Viehzucht und Landwirtschaft, später auch Metallverarbeitung -- und nun waren es die ehemaligen Renntierbrüder, die mit dem neuen Lebensstil nicht selten auch neue Sprachen annahmen. Und so verschwand allmälich die eine Sprache der nomadierenden Ureuropäer, in Einzelsprachen zersplittert und von anderen Sprachen überlagert.

Überall, wo sie mal gesprochen wurde, sind ihre Spuren unter der neueren Sprachschicht zu finden: von Ural bis nach Norddeutschland, vom Schwarzmeer bis zum Weißmeer schimmert sie in den Ortsnamen durch; die Häufigkeit der Umlaute in den nordgermanischen Sprachen, der weitreichende Schwund des grammatischen Geschlechts und der Brauch, den bestimmten Artikel ans Wortende zu setzen gehen wohl auf die eine alte Sprache zurück; die feste Erstsilbenbetonung im Lettischen und der russische Vollvokalismus sind wahrscheinlich Folgen ihrer früheren Verbreitung. Und endlich, wir finden Völker, deren Sprachen nicht nur Spuren der alten Ursprache der Ostsee aufweisen, sondern ihre direkten Nachfahren sind -- die Lappen oder Saamen, die im Lauf der Zeit durch andere Völker von der Ostsee weit nach Norden gedrängt worden sind, die Karelier, Vepsen und Lyden in Nordrußland, die fast ausgestorbenen Ingern und Woten in dem Gebiet zwischen Sankt-Petersburg und Narwa und Liven an der Nordküste Lettlands, die Setuken um den Peipus-See, und endlich die Finnen und Esten, die sich sogar ihren Platz auf der politischen Karte Europas erkämpft haben.

Etwas Etymologie

Die Sprachen, um die es uns geht, werden in zwei engverwandte Sprachgruppen eingeordnet -- die lappische, der die Sprachen der Ureinwohner Finnlands und Skandinaviens angehören, die am längsten die alte Lebensweise der Jäger und Renntierzüchter beibehalten haben, und die ostseefinnische, zu der die Sprachen der schon früh seßhaftgewordener Völker des Ostseegebietes gerechnet werden. Sie sind ein Teil der weitverzweigten uralischen Sprachfamilie, zu der neben vielen kleinen Sprachen Nordosteuropas und Nordwestasiens auch das Ungarische gehört.

Töricht wäre es jedoch, eine sprachliche Verständigung zwischen einem Finnen und einem Ungarn zu erwarten -- diese Sprachen stellen die entferntesten Zweige der uralischen Sprachfamilie dar, ähnlich wie zB. das Deutsche und das Bengalische innerhalb der Familie der indogermanischen Sprachen. Nur an einigen Wörtern ist die Verwandschaft abzulesen: zB. über einen Fisch kann man sich noch verständigen -- dem finnischen und estnischen kala (,,Fisch``), karelischen kalu, vepsischen kaua oder nordlappischen guolle entspricht im entfernten Ungarischen das noch recht ähnliche hal. Doch sobald man sagen will, daß der Fisch auch noch jung ist, steht dem finnischen und karelischen nuori, estnischen noor, vepsischen nor, nordlappischen nuorrâ das völlig verschiedene ungarische fiatal gegenüber. So würden auch ein Deutscher und ein Bengale zB. die Ähnlichkeit der gleichbedeutenden Wörter Mensch und manusch entdecken können, doch schon bei einem guten Menschen feststellen müssen, daß der entsprechende bengalische Ausdruck bhalo sich von dem deutschen doch recht stark unterscheidet.

Die große Entfernung zwischen dem Finnischen und Ungarischen wird durch die Tatsache unterstrichen, daß die Zeit, in der diese beiden Sprachzweige noch nicht unterschieden waren, sechs bis acht tausend Jahre zurückliegt. Wenn wir uns in diese Zeit begeben, um den gemeinsamen Prototyp der uralischen Sprachen zu suchen, berühren wir bereits die Schicht einer Ursprache, die die Grenzen der späteren Sprachfamilien noch nicht kennt. Fragen wir, ob das obenerwähnte ungarische Wort fiatal ein etymologisches Gegenüber im Finnischen besitzt, finden wir den Ausdruck poika, der als ,,Sohn`` oder ,,Junge`` übersetzt werden kann, doch zugleich taucht das gleichbedeutende griechische pais vor unseren Augen auf. Das finnische Wort nuori erinnert wiederum an das hebräische na`ar, das dieselbe Bedeutung trägt.

Noch deutlicher wird dieses Phänomen, wenn wir die grammatischen Endungen verschiedener Sprachen nebeneinanderstellen. Die folgende Tabelle vergleicht drei Gegenwartsformen des Zeitwortes ,,gehen`` in einigen dem Finnischen näher und ferner verwandten Sprachen:

 wir gehenihr gehtsie gehen
1.menemmemenettemenevät
2.mänemmämänettämänööd
3.mânnâpmânâbeettitmânnik
4.megyünkmentekmennek
5.minememineteminou

Die erste Zeile zeigt die Formen in Finnisch, den die ingrischen Formen in der zweiten Zeile recht ähneln. Das Nordlappische in der dritten Zeile weist schon größere Unterschiede gegenüber dem Finnischen auf, und die Endungen der ungarischen Formen in der vierten Zeile sind schon wirklich anders. Viel näher dem Finnischen scheint die Sprache in der fünften Zeile zu stehen; die angeführten Formen haben zwar schon etwas spezialisierte Bedeutung -- ,,wir gehen vorüber``, ,,ihr geht vorüber``, ,,sie gehen vorüber`` -- doch die Endungen sehen den finnischen ziemlich ähnlich. Doch diese fünfte Sprache ist Tschechisch, also eine Sprache, die dem Finnischen etwa so verwand ist, wie das Deutsche dem Arabischen! Die finnische, bzw. ostseefinnische Art, mit den Verben umzugehen, geht nämlich auf jene uralte Zeit zurück, in der die uralischen und indogermanischen Sprachen noch nicht getrennt waren, und die Wahrscheinlichkeit, daß gerade das Tschechische sich gleiche Endungen wie das Finnische aus der gemeinsamen Urform entwickelt, war genauso groß wie die Wahrscheinlichkeit, daß das Lappische es tut.

Der Ursprache nah

Finden wir auch in vielen Sprachen Elemente, die ursprachlich anmuten, sind die ostseefinnischen Sprachen in dieser Hinsicht besonders. Sie haben nämlich viel weniger lautliche, lexikalische und grammatische Verwandlungen durchgemacht als andere Sprachgruppen und -familien. Stößen wir in jeder Sprache ab und zu an ein Urwort, stolpern wir im Finnischen oder Estnischen in jedem Satz darüber. Jedermann, der sich mit dem Phänomen der Ursprache befaßt hat, wird sofort die estnischen Wörter lill (,,Blume``) oder au (,,Ehre``, ursprünglich ,,Ausstrahlung``) verstehen können und begreifen, warum auf Finnisch die Sonne aurinko und das Wort sana genannt wird.

Bis in die einzelnen Laute sind diese Sprachen wahrhaft urig. Ihre lautliche Grundlage bilden zwölf Konsonanten, die sich am reinsten im Finnischen erhalten haben, und sieben Vokale, die in den ostseefinnischen Sprachen um einen bis drei weitere ergänzt und in den lappischen um einen oder zwei reduziert wurden. Diese Bausteine der Sprache sind dabei weitgehend noch bedeutungstragend, das heißt, die Bedeutung eines Wortes ist auf den Elementarbedeutungen der einzelnen Laute aufgebaut.

Als Beispiel können wir gleich den Grundlaut k nehmen (der immer unbehaucht, also eher wie das deutsche g ausgesprochen wird). Eine der mit ihm verbundenen Bedeutungen ist ein Zusammenfügen, Aneinanderketten, das wir auch aus dem griechischen kai (,,und``), lateinischen cum (,,mit``), slawischen k (,,zu``) oder deutschen ge- in Wörtern wie Gebirge oder Gebrüder kennen. Im Finnischen offenbart sich solches k am elementarsten in den Nachsilben -kin und -kaan, die ,,auch`` bedeuten. Auch mit k waren die Formen des Kommitativ gebildet, eines im Finnischen schon verschwundenen, aber im Estnischen noch erhaltenen Kasus, der unserer Präposition ,,mit`` entspricht, und -k war wohl früher auch das Zeichen der Mehrzahl, das jedoch in allen betreffenden Sprachen außer dem Nordlappischen entweder durch -t/-d, oder durch den Stimmverschlußlaut ersetzt wurde. Doch ungeachtet dieser in den letzten Jahrtausenden erlittenen Verluste ist dieses zusammenfügende k noch ungeheuer lebendig: Wird es zB. mit einem durchdringenden, fesselnden s verbunden, kommen wir zu der Nachsilbe -ksi, die eine Verwandlung in etwas bezeichnet, und zu dem Hauptwort kasa, das soviel wie ,,Haufen`` bedeutet. Wird nun dem Haufen ein bewußtseinbildendes n eingefügt, entsteht das Wort kansa (,,Volk``) oder mit verlängertem s kanssa, was ursprünglich den Zustand des Dabeiseins bedeutete und heute als das Beiwort ,,mit`` gebraucht wird. Mit einem von außen schauenden t und umschließenden o bildet das k wiederum die Wörter kota, koti und koto, ,,Zelt``, ,,Heim`` und ,,Heimat``. Und wird endlich das k mit sich selber verbunden, potenziert sich die Grundbedeutung und es entsteht eine ,,ganze Menge`` -- koko.

So könnten wir nun jeden einzelnen Laut befühlen und mit anderen Lauten zu Silben und Wörtern verbinden, auf die Kontinuität der Bedeutung achtend. Den größten Teil des Grundwortschatzes und alle grammatischen Partikeln, die wir in den ostseefinnischen und lappischen Sprachen vorfinden, könnten wir auf diese Weise aufbauen. Nur Lehnwörter trotzen manchmal dieser sprachbildenden Kraft; doch auch ihre Widerspenstigkeit wird meistens nach einer Zeit überwunden, so daß auch sie sich dann den uralten semantischen Gesetzen fügen.

Angeklebte Kategorien

Haben wir erlebt, wie aus den Lauten ein Wort entsteht, wollen wir auch verstehen, wie aus den Wörtern ein Satz gebildet wird. Dafür suchen wir uns ein überaus edles Beispiel -- wir schlagen den großen Roman ,,Die sieben Brüder`` des finnischen Klassiker Aleksis Kivi irgendwo mittendrin auf und lesen:

,,Siitä, hetken päästä läksivät veljekset, varustettuna seipäillä, köysillä ja kuristimilla, saavuttamaan saalistansa.``

Da haben die sieben Brüder gerade einen in eine Falle geratenen Wolf entdeckt, dessen sie sich bemächtigen wollen; und den Ausbruch zu diesem Unternehmen beschreibt der ausgewählte Satz:

,,Daraufhin, nach einem Augenblick, gingen die Brüder aus, mit Stöcken, Seilen und Schlingen gerüstet, um ihre Beute zu erlangen.``

Schon auf den ersten Blick sehen wir, daß das Deutsche deutlich mehr Wörter als das Finnische braucht. Die kleinen Wörtchen wie ,,einem``, ,,mit`` oder ,,ihre`` fehlen -- das Finnische kommt also ohne solche Hilfsmittel aus, bzw. packt das, was sie aussagen, in die anderen Wörter mit hinein.

Damit wir diesen Vorgang besser verstehen lernen, fangen wir bei dem Einfachsten an -- bei den Brüdern, die mit dem Wort veljekset bezeichnet werden. Die Grundform der Einzahl heißt veljes (,,Bruder``), veljekse- ist der volle Stamm des Wortes und -t ist die Mehrzahlendung. Sie ist universal -- das Finnische kennt keine Wege, Häuser und Auen, sondern eben nur tiet, talot und niityt, ohne eine einzige Ausnahme. Und da diese Endung nicht nur einen abstrakten Mehrzahlbegriff vertritt, sondern das Prinzip der Mehrzahl selbst, finden wir sie genauso bei der Verbform läksivät, ,,sie gingen aus`` -- das Zeitwort lähteä verbindet sich mit dem Zeichen der einfachen Vergangenheit -(s)i- und kommt durch einen Lautwandel zu deren Stamm läksi, den erweitert es mit einem -vä zu einem Partizip und krönt mit dem mehrzahlanzeigenden -t das Werk. Verschiedene grammatikalische Kategorien werden nacheinander an den ursprünglichen Wortstamm angeklebt, agglutiniert, wie man fachmännisch sagt.

Ein noch besseres Beispiel für dieses Sprachphänomen liefert uns das abschließende saavuttamaan saalistansa, ,,um ihre Beute zu erlangen``. Die beiden finnischen Wörter sind von demselben Stamm saa abgeleitet, dessen Grundbedeutung ,,bekommen`` ist. Wenn diesem die Nachsilbe -pu angeschlossen wird, entsteht der Verbstamm saapu, ,,sich irgendwo bekommen``, also ,,gelangen``. Ein -tta verwandelt dann das Verb in ein saavutta, ,,gelangen machen``, also ,,erlangen`` (das p wird dabei zu v nach den Lautwandelgesetzen). Und endlich -maan ist die Endung des Richtungsinfinitivs -- saavuttamaan heißt also nicht einfach ,,erlangen``, sondern gleich ,,um zu erlangen``. Etwas einfacher ist das zweite der beiden Wörter: die Nachsilbe -lis macht aus dem Stamm saa etwas, was man aufgrund eigener Aktivität bekommt, also einen Ertrag, eine Beute. Das darauffolgende -ta klassifiziert die Beute als einen Objekt, der an der beschriebenen Handlung teilnimmt, aber dabei nicht ganz ausgeschöpft wird, und das abschließende -nsa bedeutet einfach ,,sein`` oder ,,ihr``.

Etwas überraschen kann uns das erweiterte Satzglied seipäillä, köysillä ja kuristimilla, ,,mit Stöcken, Seilen und Schlingen``. Über die Ausrüstung der Brüder wird doch in der Mehrzahl geredet; wo ist aber das ausnahmslos versprochene t? Wir können als Hauptteile der drei Wörter die Stämme von ,,Stock`` (seiväs), ,,Seil`` (köys) und ,,Schlinge`` (kuristin) identifizieren und die gemeinsame Endung -lla/-llä bemerken, die vor allem ,,auf`` oder ,,an`` bedeutet, doch im gegebenen Zusammenhang besser ,,mit`` übersetzt werden sollte. Warum finden wir nun zwischen dem jeweiligen Stamm und der Endung kein t, sondern vielmehr ein i? Weil die Sprache sich an den realen Begriffen orientiert und nicht an ausgedachten Schemen. Die Mehrzahl der nebeneinanderlaufenden sieben Brüder hat eine völlig andere Begriffsgebärde, als die Mehrzahl der Stöcke, Seile und Schlingen, die nicht als eine bloße Menge der Objekte, sondern als ein gegliedertes Ganzes angesprochen werden. Würden wir einige Stöcke als Satzsubjekt erwähnen, würden sie seipäät heißen; setzen wir sie aber in eine logische Beziehung mittels der Endung -lla, sollen sie seipäi- genant werden.

Im Bau aller dieser Wörter können wir beobachten, daß am Anfang immer das Wesentlichste ausgesprochen wird, und erst dann die Ergänzungen in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit angefügt werden. Mit dem einfachen Stamm beginnt das Wort; die ersten Nachsilben bestimmen seine eigentliche Bedeutung, die Endungen erklären seinen Bezug zu den anderen im Satz angesprochenen Dingen und Wesenheiten. Dasselbe Prinzip gilt auch für die Anordnung der Wörter in den einzelnen Satzteilen -- hetken päästä bedeutet wörtlich ,,des-Augenblickes aus-dem-Kopf``, saavuttamaan saalistansa wiederum ,,um-zu-erlangen ihre-Beute``. Das Beiwort ,,nach`` vor den Augenblick zu setzen oder über die Beute zu sprechen, bevor die Haupttätigkeit erwähnt wird, das wäre aus der Sicht einer ostseefinnischen Sprache ganz verkehrt.

Heben, tragen, stellen

Die vielen grammatischen Partikeln, von denen wir einzelne erwähnt haben, sind nicht nur nach festen Gesetzen der Lautbedeutung aufgebaut, sondern auch untereinander nach unerschütterlicher Logik angeordnet. Gibt es die Endung -maan, welche einen Infinitiv bezeichnet, der eine Richtung irgendwohin angibt, muß es auch Endungen -massa und -masta geben, die den Infinitiven für irgendwo und irgendwoher angehängt werden, und alle diese Infinitivformen müssen gleich gebildet werden, wie die entsprechenden Formen bei den Hauptwörtern. Wenn man schwimmen geht oder in ein Haus geht, geht man eben uimaan oder taloon; wenn man schwimmen war oder in einem Haus war, war man eben uimassa oder talossa; und wenn man vom Schwimmen kommt oder aus einem Haus kommt, kommt man uimasta oder talosta.

Nicht vorzustellen wäre es in einer ostseefinnischen Sprache, daß man wie im Deutschen die Richtung irgendwohin und die Lage irgendwo mit einer Präposition, doch verschieden Kasus ausdrückt (,,in ein Haus``, ,,in einem Haus``), und die Richtung irgendwoher mit einer anderen Präposition und dem Lagekasus von vorhin (,,aus einem Haus``). Genauso unsinnig erscheint von diesem Blickpunkt, daß man in den Sätzen ,,gib mir das Ding``, ,,mir ist es kalt`` und ,,er hat mir alles genommen`` überall das gleiche ,,mir`` gebraucht -- gerade dafür hat doch das Finnische die drei Kasusformen minulle, minulla und minulta.

Diese Dreigliederung, die unverkennbare Züge der populären eurythmischen Übung ,,Heben-Tragen-Stellen`` trägt, finden wir in den ostseefinnischen und lappischen Sprachen an vielen Stellen. Wo die Kasusendungen nicht ausreichen, da übernehmen dreigegliederte Beiwörter die Arbeit, wo die Sprachentwicklung zur formalen Asymetrie führte, haben andere Formen die Symetrie logisch ergänzt. Vergleichen wir die Dreiheit ,,zu einem Haus``, ,,bei einem Haus`` und ,,von einem Haus`` im Finnischen, Estnischen und Vepsischen, sehen wir sofort, wie große Veränderungen der äußerliche Leib der Sprache durchgemacht hat, und zugleich, wie unerschütterlich die begriffliche Dreigliedrigkeit beibehalten wurde:

F:talon luoksetalon luonatalon luota
E:maja juurdemaja juuresmaja juurest
V:pertiuokspertiuonpertiuompäi

In dem ältesten Entwicklungszustand der Sprache war diese Dreigliederung auch in der Lautgestalt selber deutlich sichtbar. Heute schimmert sie nur noch an einigen Stellen in der ursprünglichen Reinheit durch. In den estnischen Kasus für den Innenraum und die Oberfläche können wir noch die alte Dreiheit der Lautzeichen für Bewegung irgendwohin, Lage irgendwo und Bewegung irgendwoher ahnen:

kivisse ,,in den Stein``kivile ,,auf den Stein``
kivis ,,im Stein``kivil ,,auf dem Stein``
kivist ,,aus dem Stein``kivilt ,,vom Stein``

Das hervorragendste dreigliedrige Bild hat jedoch die nordlappische Sprache in ihren personalen Fürwörtern behalten. Die werden doppelt dreigegliedert -- erstens nach dem uns bekannten Schema ,,ich-du-es`` (das Lappische, wie auch die ostseefinnischen Sprachen, unterscheidet kein grammatisches Geschlecht, also auch kein ,,er``, ,,sie`` und ,,es``), zweitens mit Hinsicht auf die Eingliederung unter die anderen Menschen, wo man entweder als Einzelner, oder als eine der beiden Seiten einer Partnerschaft, oder als Glied einer Gemeinschaft auftritt. Zum Zeichen von ,,ich`` wurde das m der inneren Bewegung, ,,du`` wurde durch das d der Berührung und des Blickes von außen ausgedrückt, ,,es`` hat sein Abbild im einwirkenden s gefunden; das Phänomen des Einzelseins offenbarte sich im on, einer Zusammenfügung der Umschließung und des Bewußtseins, die Beziehung zweier Menschen bekam die dreigegliederte Seelengebärde oai als ihren Ausdruck, und das lange ii der individuellen Verantwortung wurde zum Zeichen des Menschen in der Gemeinschaft:

mon ,,ich``don ,,du``son ,,er/sie/es``
moai ,,wir beide``doai ,,ihr beide``soai ,,sie beide``
mii ,,wir``dii ,,ihr``sii ,,sie``

Wir sehen, wie eine Idee sich die geeignetsten lautlichen Bausteine aussucht und sie dann in der bestmöglichen Weise zusammenfügt, um sich in der Sprache zu offenbaren. Sowohl dem Sprecher dieser Sprache, als auch seinem Zuhörer wird sie dann allmählich zu einem Lebensinhalt, auch wenn er sie noch nicht bewußt ergriffen hat.

Wohlklang

Hat bei der Beobachtung des großartigen Wort- und Satzbaus die Begeisterung uns nicht allzu überwältigt, haben wir bemerken können, daß die Regelmäßigkeit der grammatischen Suffixe durch einige Lautveränderungen gestört wird. Warum wurde aus dem Stamm saapu nach dem Anhängen der Silbe -tta nicht saaputta, sondern saavutta? Warum heißt seiväs nach der Erweiterung durch -i und -llä nicht seiväillä, sondern seipäillä? Und warum wird den Wörter seiväs und köys ein -llä angehängt, dem Worte kuristin aber ein -lla?

Die Antwort auf diese Fragen gibt uns die lautliche Gestalt der ostseefinnischen Sprachen selbst. In den bisher angeführten Sprachproben haben wir sehr viele Doppelbuchstaben und etliche recht halsbrecherische Vokalgruppen sehen können -- erinnern wir uns nur an Wörter wie mânâbeettit, köysillä, saavuttamaan, luota oder moai. Diese Schreibweise ist durchaus ernstzunehmen -- anders als die Deutschen, die ein doppeltes t im Wort Kette schreiben und doch nur ein einfaches lesen, oder die Franzosen, die beim Lesen von eau nur ein kurzes o herausbringen, sprechen die Finnen, Esten, Lappen und ihre Verwandten alles so aus, wie es geschrieben steht. Ein doppeltgeschriebener Laut ist lang, sei er ein aa oder ein tt, ein oai ist eine Gruppe von drei selbständigen, nacheinander gleitend ausgesprochenen Lauten. Während wir vom Deutschen gewöhnt sind nur bei Selbstlauten die Länge zu beachten und dementsprechend zB. einen Rahmen vom Rammen zu unterscheiden, können in den alten Ostseesprachen sowohl die Selbstlaute, als auch die Mitlaute entweder kurz oder lang sein -- im Estnischen, Setukesischen und Lappischen außerdem noch mittellang -- und das unabhängig von der Wortbetonung, die immer an der ersten Silbe liegt. Und während wir im Deutschen die Mitlaute zu allerlei Lautgruppen fügen -- denken wir an den Herbst oder das Lechzen -- und den Selbstlauten nur die vorgefertigten Figuren ei, au und eu erlauben, gilt im Finnischen und den verwandten Sprachen eine ziemliche gleichberechtigung zwischen den beiden Lauttypen.

Gerade diese Fähigkeit der ostseefinnischen und lappischen Sprachen, ungeachtet der rythmischen Wortbetonung den Strom der kurzen und langen, einzelnen und gruppierten Lauten gleichmäßig fließen zu lassen, ohne dabei Vokale oder Konsonanten zu bevorzugen, verleiht diesen Sprachen den charakteristischen, für ein deutsches Ohr ungewöhnten und fast unirdischen Klang, der wie eine Beschwörung anmutet. Und die Lautveränderungen, nach denen wir gefragt haben, sollen gerade dafür sorgen, daß beim Anhängen von verschiedenen grammatischen Partikeln an das Wort nichts von dieser beschwörenden, mantrischen Kraft der Sprache verloren geht. So wechseln manche Wörter zwischen verschiedenen ,,Stufen`` ihres Wortstammes, je nach dem, welche Nachsilbe oder Endung ihnen angeschlossen wird, und manche Nachsilben und Endungen passen ihren Vokal den Vokalen im Wortstamm an.

Im ersten Fall sprechen wir über den Stufenwechsel -- den haben wir am deutlichsten an dem finnischen Wort seiväs erlebt, dessen schwache Stufe seivä und starke Stufe seipä heißt, doch sowohl das Finnische als auch die anderen Sprachen bieten noch viel heftigere Beispiele solcher Veränderungen: das estnische pidu <-> peo oder lappische guolle <-> guuli sind keine Ausnahmen, sondern ganz regelmäßig gebildete Formen. Das zweite Phänomen, der Selbstlautwandel in den Nachsilben, wird Vokalharmonie genannt -- die meisten der erwähnten Sprachen unterscheiden zwischen tiefen, hohen und neutralen Vokalen (in Finnisch sind es a, o, u an der einen und ä, ö, y an der anderen Seite, und e und i in der Mittelgruppe), und haben dann zwei Arten der Suffixe, die eine für die Wörter, welche einen tiefen Stammvokal haben, die andere für die übrigen.

Der mantrische Klang, den die alten Ostseesprachen aus einer Gleichstellung der Vokale und Konsonanten aufbauen und durch den Stufenwechsel und Vokalharmonie stärken, hat sie seit der ältesten Zeit bei den Nachbarvölkern als Zaubersprachen etabliert. Kein Zufall ist es, daß der älteste in einer dieser Sprachen erhaltene Text ein auf Karelisch verfaßter Zauberspruch ist, der unter der russischen Handelskorrespondenz aus dem 13. Jahrhundert gefunden wurde. Damals, wie auch noch einige Jahrhunderte später, gebrauchten russische und skandinavische Kaufleute ostseefinnische Formeln, um ihren Handelspartner mit einem Bann für den Fall des Vertragsbruches zu belegen.

Die Mission

Manchmal kann man Stimmen hören, die die uralten Sprachen der Ostsee als unzeitgemäß bezeichnen: Es sei doch eine notwendige Entwicklung, daß die meisten dieser Sprachen heute vom Aussterben bedroht sind, denn das Schwedische, Norwegische oder Russische habe doch viel bessere Möglichkeiten, daß Bewußtsein des heutigen Menschen zu spiegeln und ihn auf dem Weg in die Zukunft zu begleiten; das Veraltete müsse doch dem Zeitgemäßen Platz machen.

Es sind jedoch in unserer Zeit gerade die ,,zeitgemäßen`` Sprachen in der Gefahr, daß sie dem Bewußtsein des Menschen keine genügende Grundlage für die zukünftige Entwicklung geben. Sie haben sich in viel höherem Maß von ihrem Ursprung entfernt und sind dadurch willkürlich geworden. Und ein Mensch, der nur in ihnen lebt, kann leicht den Wahnvorstellungen verfallen, daß die menschliche Sprache nur eine Ansammlung zufällig entstandener Symbole ist, die Menschen laut ihren weltanschaulichen Vorstellungen beliebig ändern können und deren Gebrauch keine reale Folgen hat.

Und gerade an dieser Stelle können uns die alten Sprachen der Ostsee helfen. Wer einmal ihre Nähe zur Ursprache erlebt hat und gesehen, wie sorgfältig die einzelnen Laute zu Silben und Wörtern gefügt werden, der wird nicht mehr glauben, daß die Sprache aus zufälligen Symbolen besteht. Wer einmal den Sprachbau beobachten konnte, in dem das Wesentliche stufenweise zum Ergänzenden geführt wird und das dreifaltige Urwesen der Welt sich offenbart, der wird sich nicht mehr einreden lassen, daß die Sprache von Menschen willkürlich verändert werden darf. Und wer einmal dem Stufenwechsel begegnet ist und weiß von dem karelischen Zauberwort des Nowgoroder Kaufmanns, der wird nicht mehr die reale Wirkung der Sprache bezweifeln.

Damit offenbart sich die besondere Mission der alten Ostseesprachen für die heutige und zukünftige Zeit: Sie offenbaren den geistigen Ursprung, die Objektivität und die reale Wirkung der menschlichen Sprache. Und da sie nicht tote Sprachen ausgestorbener Kulturen sind, sondern lebendige Sprachen heutiger Menschen, die nicht weniger zeitgemäß und ichhaft sind als der durchschnittliche Leser dieser Worte, ist diese ihre Offenbarung wahr und überzeugend.

 
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